Ich habe Coasterfriends heute geöffnet, ganz kurz nur das Artikelbild auf der Startseite gesehen und bin direkt zu "Was ist neu" gesprungen. Dann kam aber der Thread hier, den ich gelesen habe. Danach habe ich mir den Artikel dann doch durchgelesen und mir ist aufgefallen: Ich weiß nun, warum er mich nicht locken konnte, ihn anzuklicken. Nicht falsch verstehen: Der Artikel enthält gute Informationen. Das Thema an sich sprach mich aber nicht an, da es die zu erwartende ambivalente Einstellung thematisiert, welche hier im Forum immer wieder bei VR-Angeboten auftritt.
Ich habe noch keine VR-Achterbahnfahrt gemacht. Da mir diese Erfahrung also fehlt, ist mein Diskussionsbeitrag hier rein spekulativ, theoretisch und allgemeiner Natur, ihr seid gewarnt.
Hier mein Sermon dazu:
A)
VR scheint ja bei Parkbesuchern anzukommen. Würden die Gäste reihenweise an Übelkeit, Schwindel und einer miesen Erfahrung leiden, würde sich VR nicht vermehrt zunutze gemacht werden. Der Artikel beschreibt dies ja auch: Erste Experimente waren vielversprechend, mussten aber technisch weiter ausgearbeitet werden. Die Technik wird laufend verbessert. Die Ergebnisse werden offenbar besser. Wie jede neue Technik muss aber auch VR weiterentwickelt werden. Wenn man beobachtet, wie unfassbar schnell ein moderner Computer Daten verarbeiten kann, ist es schon erstaunlich, was da möglich ist. Früher waren Ladezeiten im Internet ja auch anders. Wer in den 90er Jahren versuchte, ein Video online abzurufen, wartete eben eine halbe Stunde, um einen Clip von kürzerer Dauer abzuspielen. Und das in VGA-Auflösung. Heute sind wir es gewohnt, HD-Filme sofort auf Abruf abzuspielen und empfinden es schon als lästig, wenn die Ladezeit länger als drei, vier Sekunden ist. UHD geht aber noch nicht überall. Und im zweiten Tiefgeschoss der U-Bahn kann man auch heute oft keine TEXTnachrichten empfangen oder verschicken, selbst wenn einem das Handy noch Edge-Geschwindigkeit verspricht.
Daraus folgt: Wenn die Rechenkapazitäten steigen, die Preise für Hardware sinken und darum VR noch geschmeidiger, ruckelfreier und realistischer, mit detaillierteren Grafiken und einer nahezu fehlerfreien Koordination von Bewegung und Film möglich wird, fallen Schwindelgefühle, Übelkeit und andere Nebenwirkungen wahrscheinlich weg. Leichtere, weil kleinere Technik wird es zudem ermöglichen, keine üblen Druckstellen auf der Nase zu haben.
B)
Immersion ist ein großes Thema. "Immersion" bedeutet übrigens nichts anderes als "eintauchen".
Es gibt zwei Arten von Attraktionen und somit auch zwei unterschiedliche Ansätze, die bei Attraktionen wichtig sind. Walt Disney hat den Themenpark erfunden und Besuchern die Möglichkeit gegeben, in seine Phantasiewelten einzutauchen. Disneyland sollte seinen Besuchern ermöglichen, in die Film- und Fernsehwelten einzutauchen, die der Zuschauer nur von Leinwänden und Bildschirmen kannte. Auch hier ist Technik ein wichtiges Element gewesen und Disney hat ein Team von kreativen Technikern neue Technologien entwickeln lassen, um das Eintauchen in eine andere Welt so realistisch wie möglich zu machen. Zufahrtswege für Mitarbeiter und Zulieferer wurden versteckt. Mit erzwungenen Perspektiven ("forced perspective") wurden Gebäude gebaut, die größer und höher wirkten, als sie sind. Diese Technik findet sich heute überall: Wer vor einem Disneyschloss, der Skull-Island-Attraktion oder Schloss Hogwarts steht, hat das Gefühl, es sei noch ein weites Areal dort, wo in wenigen Metern Schluss ist.
Diese Technik zur Immersion wurde und wird immer weiter ausgebaut. Animatroniken, Lichteffekte, Leinwände, Spiegelillusionen, immer bessere künstliche Landschaften prägen moderne Attraktionen aller Art.
Dem entgegen steht der andere Ansatz, Fahrgeschäfte interessant zu machen: der "Thrill-Faktor". Gerade bei Achterbahnen, aber auch bei sogenannten Flat-Rides ist die Entwicklung zu mehr Geschwindigkeit, mehr Krafteinwirkung, mehr Höhe etc. zu beobachten. Dieser Entwicklung stehen vor allem Grenzen des menschlichen Körpers entgegen. G-Kräften halten Menschen nur bis zu einem gewissen Grad stand. Zwischen "geilem Druck in der Kurve" und "ich verliere (gleich) das Bewusstsein" liegt der Unterschied schon bei der selben Attraktion manchmal nur die persönlichen physischen Voraussetzungen, wie wir hier im Forum anhand der lebhaften Diskussion um Fēnix im Toverland sehen können. Wir alle kennen Menschen, die vor einer Attraktion stehen und sie nicht betreten wollen, weil sie ihnen zu extrem aussieht. Höhenangst verhindert das Betreten einer Achterbahn mit hohem, langsamem Lifthügel oder eines Freifallturms. Abhilfe schafft da die Abschusstechnik - aber die wiederum mag auch nicht jeder. Dafür werden Riesenräder gefühlt jährlich mit neuen Höhenrekorden geplant und gebaut. Und geht es über Kopf, sind ebenfalls manche Personen raus, obwohl eine Inversion nicht zwingend Auskunft darüber gibt, ob ein Fahrgeschäft angenehm oder unangenehm zu fahren ist. Ich persönlich frage mich ja auch gern, warum man Hangtime mag - wenn ich auf einer Kirmes sehe, wie ein Flatride seine Fahrgäste quälend langsam kopfüber stellt und eventuell sogar in dieser Position minutenlang im Kreis dreht, bin ich z.B. auch raus. Die stechenden Kopfschmerzen, wenn das Blut sich im Hirn anstaut, brauche ich nicht.
So verschieden die Geschmäcker auch sind, aber es sind eben diese physischen Begrenzungen, die von Freizeitparks zwar ausgelotet, aber niemals überschritten werden können. Was also folgt ist zwangsläufig die Immersion. Sie ist der Schlüssel zu einem ausgefeilteren Erlebnis. Hier grenzen sich Themenparks von Jahrmärkten deutlich ab. Innerhalb der Themenparkwelt gibt es enorme Unterschiede, welcher Schwerpunkt gesetzt wird. Aber selbst bei Disney gibt es die klassische Holzachterbahn, die als solche von weitem zu erkennen ist (der Incredicoaster am Pixar Pier im California Adventure).
C)
Die Illusion und ihr Potential lässt sich aber in den Thematisierungen von Attraktionen überall sehen. Wer in Space Mountain auf Überlichtgeschwindigkeit geht und mit den Lichteffekten sich viel schneller zu bewegen vermutet, als es tatsächlich der Fall ist, kennt das. Eine enge Kurve fühlt sich ja auch schneller an als eine weitgezogene Kurve, deren G-Kräfte nur durch hohe Geschwindigkeit erreicht werden. Nimmt man dem Fahrgast die Sicht auf das Geschehen und ersetzt es durch andere Effekte, wird das Fahrerlebnis eben auch anders. Im besten Fall wird es intensiver. Es gibt aber auch weniger gelungene Fälle. Das möchte ich an konkreten Beispielen aufzeigen: Gefühlt jede zweite Attraktion in Universal Orlando benötigt eine 3-D-Brille. Man fährt von einer Leinwand zur nächsten um einen kurzen Filmclip zu sehen, bei dem einem wahlweise heisse, kalte oder feuchte Luft ins Gesicht geblasen wird, während das Fahrzeug rüttelt, dreht und schwenkt. Das funktioniert beim "Forbidden Journey" sehr gut in meinen Augen, es ist eben ein Dark Ride. Bei "Escape from Gringotts" funktioniert es längst nicht so gut. Es ist eine Achterbahn, aber so fühlt es sich einfach nicht an. Spiderman springt über Leinwände, die Transformers ebenso. Diese Fahrgeschäfte unterscheiden sich alle ein wenig in der Fahrtechnik, im Gesamterlebnis bleibt aber ein wenig der Geschmack des Austauschbaren. Effekte sind schon geil, Thematisierung macht einfach was her und trägt dazu bei, das Erlebnis erheblich zu intensivieren, aber durch die sich wiederholenden Elemente in den Attraktionen werden die Effekte repetitiv und damit zunehmend unspektakulärer. Hingegen macht auch die vierte und sechste Wiederholungsfahrt der Hulk-Achterbahn Spaß.
D)
Daraus folgt ein Spannungsfeld, das sich vermutlich auf VR komplett übertragen lässt: Als Gimmick ist diese Technik interessant und hat Potential. Crazy Bats ist sicher besser als die Fahrt durch die komplett dunkle Halle des ehemaligen Space Center/Temple of the Nighthawk. Dass der Europapark mit Can Can Coaster/Valerian beide Möglichkeiten abdeckt und so zwei komplett verschiedene Erlebnisse anzubieten hat, ist ein großartiges Konzept, das ich mir unbedingt bald mal ansehen muss. VR ermöglicht einen Mehrwert, da sich unsere Sinne so gut täuschen lassen. Wie im Artikel beschrieben, ist VR ja sogar in der Lage, Bremsung als Beschleunigung wahrnehmbar zu machen. Das kennen wir von Simulatoren, die mit komplexen Bewegungsmustern in Kombination mit einem Leinwandfilm die Illusion einer Reise durchs All erschaffen. Das mag auch nicht jeder, aber in der Regel beschwert sich keiner, dass ein Simulator keine Achterbahn ist. Es wäre spannend, wenn man die Reaktionen der Parkgäste auf solche Attraktionen vor 40 Jahren kennen würde. Die im Artikel von Salto19 genannte Augmented Reality kennen wir bereits von den von mir genannten Beispielen. Sie lässt nicht den selben Freiraum zu, den VR ermöglicht, sie erweitert dennoch die Möglichkeit, physische Empfindungen und visuelle Wahrnehmung auf ein neues Level zu heben. Dass dies auch mit physischen Effekten möglich ist, wie das bei meinem Space Mountain-Beispiel, aber auch vielen anderen Attraktionen der Fall ist, führt unweigerlich zu der Frage, welche Technik sich durchsetzen wird - und warum.
Ist es Nostalgie, die lieber eine physische Animatronik sieht als ein gerendertes 3D-Modell auf einer virtuellen Leinwand? Führt eine zusätzliche Brille zu einer Mittelbarkeit des Erlebnisses, wird also umgekehrt ein Effekt als unmittelbarer wahrgenommen, wenn er nicht nur mit einer Sehhilfe funktioniert? Wie gut müssen physische und virtuelle Elemente gemischt werden, um ein Gesamtbild zu schaffen, das einem nicht sagt "ah, das ist echt, das ist eine Leinwand"? Wenn das Gefühl der realen Elemente, gepaart mit geschickten visuellen Effekten ein unmittelbareres Erlebnis schaffen, als es ein komplett virtuelles Erlebnis schafft, dann wird es diese Elemente wohl immer geben. VR als Allheilmittel sehe ich nicht. Als Möglichkeit, etwas komplett anderes zu erleben, auch im Hinblick darauf, dass ein VR-Erlebnis in nicht allzuferner Zukunft absolut realistisch aussehen kann, sehe ich es jedoch schon. Fotorealistische Szenarien gepaart mit wenig störender Technik bietet einfach einen Mehrwert. Wäre ein Mehrwert durch Technik und Illusion nicht gegeben, hätten sich Fahrgeschäfte wie Dark Rides nie dahin entwickelt, wo sie heute sind. Ähnlich kann es mit VR passieren. Überall dort, wo nur auf diese Technik gesetzt wird, dürfte es aber zu einer Art Ermüdungserscheinung führen. Wer "Ready Player One" gelesen oder gesehen hat, mag bereits darüber nachgedacht haben, ob VR wirklich ein kompletter Ersatz für die Realität sein kann - und vermutlich zu dem Schluss gekommen sein, dass eine Simulation wahrscheinlich immer eine Simulation bleiben wird, egal wie gut sie auch ist. Also: VR hat Zukunft, VR hat Potential. Aber nur als ein Element unter vielen, die einen Themenpark ausmachen.